Die unsichtbare Nachfrage – warum die wichtigste Kraft im Markt in keinem klassischen Indikator auftaucht
Es gibt einen Gedanken, der heute wichtiger ist als fast alle gängigen Konjunkturstatistiken: Ein beträchtlicher Teil der realen wirtschaftlichen Nachfrage ist unsichtbar. Sie taucht schlicht nicht in den traditionellen Instrumenten auf, die seit Jahrzehnten die Brille bestimmen, durch die wir Wirtschaft betrachten. Und gerade diese unsichtbare Nachfrage erklärt, warum Rohstoffe steigen, warum Energie dauerhaft knapp bleibt und weshalb Infrastruktur plötzlich zu einem strategischen Investmentfeld geworden ist.
Wo ist die Nachfrage? Die wichtigsten Nachfrager sind nicht im Blick der Indizes. Daraus entsteht eine paradoxe Situation: die Vorzeichen stehen auf Rezession und die Preise steigen trotzdem.
Die meisten Anleger richten ihren Blick auf Kennzahlen wie den ISM PMI (Purchase Managers' Index). Dieser Index gilt als zuverlässiger Barometer für die Aktivität der klassischen Industrie. Befragt werden Einkaufsmanager in der produzierenden Industrie, wie sie Neuaufträge, Produktionslevel und Einkaufsplanung für die Zukunft einschätzen: Alles über 50 signalisiert Expansion, alles darunter Kontraktion. Doch die jüngsten Zahlen zeichnen ein widersprüchliches Bild. Derzeit (Dez. 2025) liegt der PMI im Bereich von 47 bis 48 Punkten – klar im Kontraktionsgebiet. Auch viele europäische Einkaufsmanagerindizes bewegen sich auf ähnlichem Niveau. (Quelle: Institute for Supply Management (ISM))
Steigende Preise trotz Rezession?
Nach klassischer Interpretation wäre das ein Vorzeichen einer bevorstehenden Rezession. Doch während diese Indikatoren Schwäche signalisieren, steigen die Rohstoffpreise, die Kapitalzuflüsse in Commodity-ETFs sind so stark wie seit der COVID-Zeit nicht mehr, und der globale Energie- und Infrastrukturbedarf wächst weiter. Transformatoren haben Lieferzeiten von 24 bis 36 Monaten, Uranproduktion liegt weiter unter dem Bedarf, und neue Kupferminen sind jahrelang von Realisierung entfernt.
Diese Diskrepanz ist kein Zufall – sie zeigt vielmehr die Grenzen der traditionellen Indikatoren. Der PMI misst die Nachfrage der alten Industrie: Maschinenbauer, Fertiger, klassische Zulieferer. Doch diese Sektoren sind nicht mehr die dominante Quelle wirtschaftlicher Nachfrage.
Der Staat, der unsichtbare Nachfrager
Denn die entscheidenden Impulse kommen heute aus Sektoren, die vom PMI nicht einmal am Rand gestreift werden. Der Staat etwa agiert inzwischen wie ein Großinvestor mit nahezu unbegrenztem Planungshorizont. Stromnetze werden modernisiert, Energieinfrastrukturen neu aufgebaut, Halbleiterfertigungen subventioniert, Verteidigungsprogramme ausgeweitet. All das geschieht unabhängig von kurzfristigen Stimmungsschwankungen in der Industrie. Es sind politische Entscheidungen, die Nachfrage erzeugen – robust, langfristig, schwer umkehrbar.
Taucht in keiner Statistik auf: Ressourcenfresser AI
Parallel dazu wächst eine völlig neue Form der technologischen Nachfrage: Rechenzentren, getrieben durch den KI-Boom, entwickeln sich zur nächsten großen Ressourcenmaschinerie. Die Dimension dieser Entwicklung lässt sich inzwischen klar beziffern. Allein die großen Hyperscaler – Amazon, Google und Microsoft – betreiben aktuell rund 522 Rechenzentren weltweit und haben weitere 411 Projekte in der Pipeline, ein Zuwachs, der in dieser Geschwindigkeit historisch beispiellos ist. Jedes dieser Zentren verschlingt enorme Mengen an Strom, Kupfer, Kabeln, Transformatoren, Kühltechnik und verlässlichen Energiequellen. Ein einziges, großes AI-Rechenzentrum kann mehr Energie verbrauchen als eine ganze mittelgroße Stadt. Dieser Ressourcenhunger wächst so rasant, dass klassische Industrieumfragen ihn gar nicht abbilden können. Diese Nachfrage folgt keiner Konjunktur – sie folgt einem exponentiellen technischen Fortschritt.
Steigender Inflow in Commodities zeigt den neuen Focus - und kündigt möglicherweise einen Anstieg der Inflation an.
Quelle: Simon White, Bloomberg, via ZeroHedge
Was wichtig ist, ist knapp
Noch verschärfender wirkt die Angebotsseite: Viele kritische Materialien sind strukturell knapp. Kupferminen wurden über Jahre zu wenig ausgebaut, Uranförderer hinken der globalen Nachfrage hinterher. Netzkomponenten können nicht in ausreichender Zahl produziert werden. In einer solchen Umgebung kann selbst eine stabile oder nur moderat steigende Nachfrage Preise weit nach oben treiben.
Weiter denken als man sehen kann
Für Anleger bedeutet dieses Umfeld vor allem eines: Wer heute nur auf klassische Indikatoren wie den PMI blickt, sieht die Welt durch ein Fernglas, das auf den falschen Horizont eingestellt ist. Die entscheidenden Kräfte entstehen außerhalb dieses Bildausschnitts
In einer Welt unsichtbarer Nachfrage rücken deshalb Assets in den Mittelpunkt, die von Engpässen profitieren: Energie, Netztechnik, Kupfer, Uran, Infrastruktur. Sie sind nicht nur taktische Beimischungen, sondern strategische Antwort auf eine grundsätzliche Entwicklung.
Wer früh versteht, dass sich der Motor der Weltwirtschaft verlagert hat, positioniert sich nicht für das nächste Quartal, sondern für das nächste Jahrzehnt. Das ist der Unterschied zwischen Reaktion und Voraussicht.
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