Deflation? Inflation? Beides!
Wir stehen an einer seltenen Schnittstelle: Zwei Kräfte, die sich normalerweise gegenseitig ausschließen, wirken nun gleichzeitig und mit voller Wucht. Auf der einen Seite entsteht eine tiefgreifende deflationäre Dynamik – angetrieben durch Künstliche Intelligenz und Automatisierung, die Preise und Margen nach unten zieht. Auf der anderen Seite erleben wir eine massive reale Inflation – getrieben durch staatliche Investitionen in Infrastruktur, Energie, Reshoring und Verteidigung, die Knappheiten und Preisauftrieb erzeugen. Diese ungewöhnliche Gleichzeitigkeit von Deflation und Inflation prägt die neue Marktrealität des Barbell‑Zeitalters.
Das Innenleben der digitalen Deflation
KI und Automatisierung senken Kosten drastisch, steigern Produktivität und verändern Wertschöpfungsketten nachhaltig. Studien zeigen, dass über 60 % der Industrieunternehmen nach Einführung von KI signifikante Effizienzgewinne und Kosteneinsparungen erzielen. Gleichzeitig geraten standardisierte Dienstleistungen und Softwareanbieter unter Preisdruck – ein klassisches Muster digitaler Deflation.
Doch die Deflation betrifft nicht nur Preise, sondern auch Menschen: Laut Studien von Goldman Sachs könnten weltweit bis zu 300 Millionen Arbeitsplätze von Automatisierung betroffen sein, vor allem im sogenannten White‑Collar‑Segment. Besonders stark trifft es Einsteiger‑Positionen – von Buchhaltung und Personalwesen bis zu Marketing‑ und Analystenrollen. KI‑Systeme übernehmen Tätigkeiten, die bislang als akademisch‑geschützt galten, und verändern so die Struktur der Arbeitsmärkte fundamental.
Beispiel: In der Halbleiterbranche erzielen Nvidia und TSMC Rekordgewinne, weil sie den Schlüssel zur neuen Produktivitätswelle liefern – während klassische IT‑Dienstleister Marktanteile verlieren.
Die reale Inflation der Sachwerte
Parallel dazu entstehen neue Knappheiten: Energie, Rohstoffe, Infrastruktur, Verteidigungsfähigkeit. Staaten investieren Billionen, um Lieferketten zu sichern und ihre Industrie neu aufzubauen. Diese physischen Investitionen erzeugen eine strukturelle Inflation, die nicht einfach „wegzinssenkbar“ ist, sondern sich dauerhaft in den Kostenstrukturen festsetzt.
Beispiele finden sich überall: Der Wiederaufbau der Energieinfrastruktur in Europa treibt Stahl‑ und Kupferpreise, während in den USA der Inflation Reduction Act Milliarden in grüne Technologien lenkt und damit zugleich Arbeitskräfte und Materialien verknappt. In Asien investieren Staaten massiv in Rüstungsprogramme und Halbleiterproduktion – ebenfalls inflationstreibend, da Kapazitäten und Fachkräfte limitiert bleiben.
Für Anleger bedeutet das: Infrastrukturgesellschaften mit inflationsgebundenen Einnahmen, Versorger mit stabiler Nachfrage und Rohstoffunternehmen mit begrenztem Angebot profitieren direkt von dieser Entwicklung. Reale Werte werden damit nicht nur zur Absicherung gegen Preissteigerungen, sondern zu einem der zentralen Wachstumsthemen der kommenden Dekade.
Warum dieses Szenario eine Anlage‑Revolution bedeutet
Im Zusammenspiel dieser Kräfte entsteht eine neue Marktordnung – und eine fundamentale Herausforderung für die Kapitalallokation:
- Zunehmende Polarisierung – Die Gewinner der digitalen Deflation (AI‑Hardware, Dateninfrastruktur, Robotik) und die Gewinner der physischen Inflation (Industrie, Energie, Ressourcen) dominieren. Dazwischen bleibt wenig Ertrag.
- Rückkehr der Realwerte – In einer Welt geopolitischer Spannungen und knapper Ressourcen gewinnt das Materielle an strategischer Bedeutung. Produktionsmittel, Energie und Infrastruktur werden zu Vermögensklassen mit realem Einfluss.
- Neues Denken in Dualität – Wachstum und Sicherheit sind keine Gegensätze mehr, sondern zwei Seiten derselben Strategie. Das Barbell‑Modell vereint beide Pole – Effizienz und Stabilität.
Weiter denken als man sehen kann
Wer heute breit über Indizes wie den MSCI World investiert, ist in Technologiewerte längst übergewichtet – die digitale Seite der Hantel ist also abgedeckt. Was vielen Portfolios jedoch fehlt, ist die andere Seite: reale Wertschöpfung. Die lange als „langweilig“ geltenden Value‑Papiere – Versorger, Industrie, Rohstoffe, Energie – gewinnen wieder an strategischem Gewicht. Sie sind nicht die Gegenspieler des Fortschritts, sondern sein Fundament.
Gerade weil KI‑getriebene Deflation und reale Inflation gleichzeitig wirken, entsteht eine neue Balance: Technologie sorgt für Effizienz, reale Assets für Stabilität. Wer beides gezielt kombiniert, schafft ein Portfolio, das auf zwei Beinen steht – agil und widerstandsfähig zugleich.